Säumniszuschläge gemäß § 240 AO sind aufgrund ihrer marktfremden Höhe in der Praxis des Erhebungs- und Vollstreckungsverfahrens der Finanzbehörden seit jeher ein kontroverses Thema. Wenn Steuern (Geldleistungen gemäß § 3 Abs. 1 AO) nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet werden, so ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Zuschlag von 1,0 Prozent auf den rückständigen Steuerbetrag zu entrichten. 1,0 Prozent pro Monat entspricht einem Jahreszinssatz von 12 Prozent (!). Säumniszuschläge werden nach dem Gesetzeswortlaut nicht von der Finanzverwaltung festgesetzt, sondern entstehen kraft Gesetzes (§ 240 Abs. 1 S. 1 AO). Sie werden „verwirkt“.
Nach der Auffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) besteht der Säumniszuschlag aus drei unterschiedlichen Funktionen bzw. Komponenten, die er etwa gleich hoch gewichtet. Zum einen hat er die Funktion eines Druckmittels, durch das der säumige Steuerpflichtige zur pünktlichen Zahlung von Steuern angehalten werden soll (ständige Rechtsprechung des BFH seit der Entscheidung des Großen Senats vom 08.12.1975 – GrS I/75 – BStBl. 1976 II, 262). Weiterhin soll der Säumniszuschlag die Aufwendungen abgelten, die der Verwaltung angeblich durch die nicht fristgemäße Zahlung der fälligen Steuern entstehen (BFH-Urteil vom 27.09.2001 – X R 134/98). Schließlich verfolgt der Säumniszuschlag das Ziel, vom Steuerpflichtigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zu erhalten (BFH-Urteil vom 16.07.1997 – XI R 32/96).
Die Frage, ob die Erhebung von Säumniszuschlägen generell verfassungsgemäß ist, ist schon vor langer Zeit bejaht worden (Bundesverfassungsgericht vom 30.01.1986 – 2 BvR 1336/85). Säumniszuschläge sind jedoch aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen, wenn der Schuldner zahlungsunfähig und überschuldet ist. Hier würde der Charakter des Säumniszuschlags als Druckmittel missachtet und auch sinnlos sein, wenn ein Erlass unterbliebe (BFH-Urteil vom 16.07.1997 – XI R 32/96; BFH-Urteil vom 27.09.2001 – X R 134/98). In den meisten Vollstreckungsfällen ist Ursache für die nicht pünktliche Begleichung von Steuern und Abgaben gerade nicht der fehlende Wille zur Zahlung, sondern (vorübergehend oder dauerhaft) fehlende Liquidität.
Hier ist es geboten, einen Antrag auf Erlass der verwirkten Säumniszuschläge nach der vollständigen Zahlung der übrigen Abgabenrückstände zu stellen. Die wirtschaftliche Situation des Steuerpflichtigen soll nach Auffassung des BFH (25.2.1999 – VII B 150/98 –, BFH/NV 1999, 440) „allenfalls“ eine Erstattung bis zur Hälfte der verwirkten Säumniszuschläge im Billigkeitswege rechtfertigen, um die in solchen Fällen sinnlose Funktion als Druckmittel zu revidieren. Die Finanzbehörden folgen dieser Rechtsauffassung. Es ist langjährige geübte Verwaltungspraxis, dass in solchen Fällen nicht weniger, aber eben auch nicht mehr als 50 % der verwirkten Säumniszuschläge erlassen werden. Zu dem Volumen der verwirkten Säumniszuschläge gehören selbstverständlich auch die zum Erlasszeitpunkt bereits getilgten Säumniszuschläge.
Diese Verwaltungspraxis wird kaum noch infrage gestellt. Aber es stellen sich folgende Fragen:
1. Welcher erhöhte Verwaltungsaufwand bei Zahlungsverzug eines Steuerpflichtigen soll der Finanzverwaltung konkret entstehen? Falls ein solcher nachweislich entsteht und auch bezifferbar ist, dann ist er ganz oder teilweise über die von der Vollstreckungsstelle des Finanzamts erhobenen Vollstreckungskosten abgedeckt. Die Kosten für die automatisiert in eigenen Rechenzentren der Finanzverwaltung erstellten Mahnungen und Vollstreckungsankündigungen sind marginal. Diese angebliche Funkion der Säumniszuschläge ist nicht schlüssig und daher kein taugliches Argument, einen über 50 % der SZ hinausgehenden Erlassantrag teilweise abzulehnen.
2. Wenn durch einen hälftigen Erlass die Funkion als Druckmittel nachträglich in bestimmten Fällen eliminiert werden soll, besteht die nicht im Erlassweg erstattete andere Hälfte der SZ wohl weitgehend aus der Ausgleichs- bzw. Zinsfunktion. Es handelt sich um nichts anderes als Verzugszinsen. Denn der Erhebungszeitraum der gesetzlichen Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO endet stets mit dem Bescheiddatum. Säumniszuschläge entstehen hingegen erst ab Fälligkeit des Zahlungsgebotes. Dieser Verzugszinsanteil in den Säumniszuschlägen beträgt dann 0,5 % pro Monat bzw. 6 % p. a. Das entspräche dem gleichen Zinssatz (§ 238 AO) wie die Abgabenordnung ihn in § 233a für Nachzahlungszinsen, in § 234 € für Stundungszinsen, in § 235 AO für Hinterziehungszinsen, in § 236 AO für Prozesszinsen und schließlich in § 237 AO für Aussetzungsszinsen vorsieht.
Damit stellt sich auch bei den üblicherweise nicht dem Erlass unterliegenden anderen 50 % der verwirkten Säumniszuschläge ebenso wie bei den Zinsen gemäß AO die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes.
Seit 2008 sank der EZB-Leitzinssatz fast kontinuierlich von damals 4,25 Prozent auf 0 %. Man kann nach einem Jahrzehnt nicht mehr von einer vorübergehenden Niedrigzinsphase sprechen. Vielmehr besteht seit vielen Jahren ein strukturelles Niedrigzinsniveau. Der 9. Senat hat als erster Senat des BFH in einer Beschwerdesache am 14.05.2018 (IX B 21/18) seinen Beschluss so begründet:
„Es bestehen bei der gebotenen summarischen Prüfung überdies schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel, ob der Zinssatz dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Übermaßverbot entspricht. Die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe wirkt in Zeiten eines strukturellen Niedrigzinsniveaus wie ein sanktionierender, rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung.“
Beim Bundesfinanzhof sind derzeit (Stand 31.05.2020) folgende Revisionsverfahren zu der Zinsthematik anhängig:
- VIII R 36/16 (Zinsen ab März 2011),
- X R 15/17 (Aussetzungszinsen gem. § 237 AO),
- VIII R 25/17 (Zinsen 2012),
- III R 25/17,
- IX R 42/17 (Zinsen 2012),
- VIII R 19/17 (Zins 2011 – 2015).
Beim Bundesverfassungsgericht sind zur gleichen Thematik Verfassungsbeschwerden mit den Aktenzeichen 1 BvR 2237/14 (Zinssatz im Zeitraum nach 31.12.2009) und 1 BvR 2422/17 (Zinsen im Zeitraum nach 31.12.2011) anhängig.
Daher stellt sich bei Anträgen auf Erlass von Säumniszuschlägen die Frage, ob nicht für Säumniszuschläge, die im Zeitraum ab 01.01.2012 verwirkt worden sind, ein vollständiger Erlass zu gewähren ist, nämlich zum einen ein hälftiger Erlass aufgrund der Illiquidität und ein weiterer hälftiger Erlass im Hinblick darauf, dass am deutschen Kapitalmarkt und bei Banken strukturell seit mindestens 2012 keine Guthabenzinsen mehr mehr zu erzielen sind, so dass ein Zinsausgleich für verspätete Zahlung von Abgaben weder rechtlich noch wirtschaftlich gerechtfertigt ist.
Sofern eine Finanzbehörde den beantragten vollständigen Erlass u. a. mit der Begründung ablehnt, dass die eine Hälfte der Säumniszuschläge nicht erlassen werden könne, weil sie nicht nur Zinsausgleich, sondern auch dem Ausgleich von erhöhtem Verwaltungsaufwand aufgrund der verspäteten Zahlung durch die Steuerpflichtigen diene, könnte man die Finanzverwaltung auffordern, die behaupteten erhöhten Verwaltungskosten konkret zu benennen und zu beziffern, ggf. sogar nachzuweisen.
Fazit:
Solange die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Fiskalzinsen durch die anstehenden Entscheidungen in den anhängigen Musterverfahren beim Bundesverfassungsgericht und beim Bundesfinanzhof noch nicht abschließend geklärt ist, könnte es sinnvoll sein, Erlassanträge in voller Höhe der verwirkten Säumniszuschläge zu stellen und alle drei vom BFH in das Institut von Säumniszuschlägen hineininterpretierten Funktionen in Abrede stellen. Gegen den teilablehnenden Bescheid der Finanzverwaltung, mit dem nur ein Erlassvolumen i. H. v. 50 % der verwirkten SZ gewährt wird, sollte man Einspruch einlegen. Im Hinblick auf die anhängigen Musterverfahren dürfte in den meisten Fällen ein Ruhen des Einspruchsverfahrens gemäß § 363 Abs. 1 AO sinnvoll sein.
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Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht Jens H. Adler, Wiesbaden
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